GERA-Magazin > „Licht braucht keine Leuchte, es braucht eine Quelle“ …
03.2020 | Hinter den Kulissen

„Licht braucht keine Leuchte, es braucht eine Quelle“ – ein Gespräch über Licht und Minimalismus

von Julia Makowski, Redakteurin

Herr Ritt, was ist gutes Licht?

Thomas Ritt: Gutes Licht hat immer mit der Wahrnehmung desjenigen zu tun, der ihm ausgesetzt ist. Was soll das Licht leisten? Möchte ein Mensch ruhen, braucht er gedimmtes Licht, möchte er arbeiten, so sollte es hell und dennoch blendfrei sein. Zum Schlafen braucht es wiederum ausgeschaltetes Licht (lacht). Entscheidend sind immer Situation und Kontext – Licht kann sehr hilfreich oder auch störend wirken.

Was sind denn typische Fehler, die in der Lichtplanung regelmäßig vorkommen?

Man sieht sie in jedem Rohbau, denn schon in der Planung kommt die Frage auf:  Wie platziere ich die Steckdosen, wie die Kabel, die aus Decke oder Wand kommen? Es ist wohl zu einem architektonischen Grundgesetz geworden, einen Anschluss mittig in jedem Raum an der Decke zu positionieren. Eine zentrale Position, die seit der Erfindung der Glühbirne immer wieder Anwendung findet – und noch heute selten hinterfragt wird. 

Was meinen Sie damit?

Eine Leuchte an dieser zentralen Stelle kann den Raum gleichmäßig mit Licht versorgen. Aber will man das immer? Und wenn nicht: Wo sollen die Kabel, die Wandauslässe stattdessen platziert werden? Die Möglichkeiten, dezentral mit Licht zu arbeiten, sind durch die Entwicklung miniaturisierter Leuchtmittel immer größer geworden – und GERA treibt das mit seinen Möbeleinbauleuchten auf die Spitze. Wir können Licht so positionieren, dass es am Arbeitsplatz, in der Küche oder im Wohnumfeld exakt so positioniert ist, dass es Menschen bei dem, was sie an diesem Ort tun, optimal unterstützt.

Etwa eine Leuchte in der Besteckschublade?

Das ist ein ganz fortgeschrittenes Beispiel für eine dezentrale Lichtquelle. Denn diese Leuchte spendet nur dann Licht, wenn die Schublade benutzt wird – das ist dezentral und spezialisiert zugleich.

Das heißt, das Licht wandert immer weiter weg vom mittigen Deckenauslass und hin zu ganz gezielten Funktionen, die es erfüllen soll?

Genau. Die Entwicklungsgeschichte des künstlichen Lichts ist eine Geschichte der zunehmenden Aneignung des Lichts durch den Menschen: Was einst Mond- und Sonnenlicht waren, wurde später das Feuer oder die Fackel in der Hand. Die elektrische Glühlampe, platziert in der Raummitte, ersetzte Kerzen und Öllampen. Heute holen wir uns das Licht in verschiedenen Lebensbereichen immer näher und individueller zu uns heran. Als Tischleuchte, als Wandleuchte, als An- oder Einbauleuchte, im und am Auto, wo es heute noch viel weitreichendere Funktionen erfüllt. Licht rückt uns rein physisch immer näher.

Wie unterstützen die Lichtsysteme von GERA diese Aneignung von bedarfsgerechtem und gutem Licht?

Ein minimalistisches, formal sehr reduziertes Profil ist die Basis für alle GERA-Produkte. Aus diesem Grundgedanken leiten wir systematisch alle Leuchtentypen ab: Pendelleuchten, Stehleuchten, Lichtborde, Lichtregale. Der Vorteil ist die systematisch wiederkehrende architektonische Grundform. Wie mit einem Formenbaukasten ermöglichen wir auf Basis unseres reduzierten Lichtsystems  maßflexible, individuelle Leuchtenkonfigurationen. Unsere Leuchtenfamilien basieren auf diesem einzigen Grundprinzip. Das ist praktisch, weil ein Planer alle drei, fünf oder sieben Ableitungen geometrisch und in ihrem Prinzip auf einmal verstehen kann – die eine als Stehleuchte, die nächste als Pendelleuchte. Das ist auch wirtschaftlich, denn alles kommt aus einem minimalistischen Profilkollektion. Vereinfacht gesagt: Auf alle Fragen nach passendem Licht gibt es bei GERA eine prinzipiell immer gleich geformte Antwort.

Reduktion, Minimalismus, Klarheit – mögen Sie keine Experimente?

Wir bewegen uns immer an der Grenze des gerade noch Machbaren. In diesem Punkt sind wir sehr experimentierfreudig. Denn das kann auch heißen, herauszufinden, wie weit wir eigentlich reduzieren können. Konsequente Minimalisierung als Gestaltungsprinzip: Daraus ergibt sich für uns auch das Potenzial der Kombinatorik und zugleich der Differenzierung.

Die Frage lautet also, wie reduziert die Lichtsysteme werden können, ohne technisch und funktionell zusammenzufallen?

Genau. Bis wann bleiben unsere Leuchten stabil, verlässlich, sicher und auch produzierbar? Wie hell dürfen wir werden, ohne zu blenden? Wie dünn können wir fertigen, ohne dass der Leuchtenkörper zu heiß wird? Wie filigran darf die Leuchte sein, ohne ihre Stabilität einzubüßen? Das sind Fragen an die Grenzen des Materials, der Geometrie und der Statik. Und wir stellen sie uns immer wieder. Überspitzt gesagt:  „Wenn wir noch etwas weglassen, wird es dunkel.“ (jäger & jäger, Grafikdesigner)

„Die Vereinfachung erzwingt eine Spannung, 
die gewollt ist. Sie inspiriert.“

Thomas Ritt Designer

Sie reduzieren radikal, weil dieses Weniger Ihr Mehr ist?

Richtig, wir muten uns das zu. Auch wenn man im ersten Moment vielleicht denkt: „Das ist doch nur ein einfaches Profil – das kann doch jeder machen.“ Macht aber niemand! Nur wenige muten sich das zu. Bequeme Entscheidungen mit mehrfacher Sicherheit sind schneller und einfacher zu treffen. Kein Experiment, kein Risiko, nichts darf misslingen. Doch exakt die Kante, die Klippe zum gerade noch Machbaren ist unser Revier. Die Vereinfachung erzwingt eine Spannung,  die gewollt ist. Sie inspiriert.

Wie ist der Weg, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen?

Ich vergleiche unseren Gestaltungsprozess gern mit der Bildhauerei. Welche Linie gewollt, welche Form gemeint ist – das kann der Künstler nur dann beantworten, wenn er exakt all jenes wegschneidet, was nicht gemeint ist. Diese Kraft der einzig verbleibenden und bewusst gesetzten Linie suche ich in meinen Entwürfen.

„Licht bedarf keiner Leuchte, es bedarf einer Quelle.
Das ist meine Formel für maximale Integration von Licht."

Thomas Ritt Designer

Wie erklären Sie, warum Sie so minimalistisch sind?

Die Erklärung liegt in der Restriktion. Wir verbieten uns, Überflüssiges zu gestalten, weil es Produkte indifferent macht, vergleichbar, und weil es Ideen die Spannung nimmt. Stößt man dann auf ein gestalterisches oder technisches Problem, darf man nicht den Stift hinwerfen – denn in diesem Moment ergibt sich die Chance zur Innovation. Und Innovation bedeutet, dem Markt in einer freien und zunächst ungestörten Weise zu begegnen. Probleme sind willkommen, wenn wir sie als Auftrag begreifen – in ihrer Lösung liegt unsere Abhebeleistung. Dinge auf den Punkt zu bringen heißt zu entscheiden, was verzichtbar ist. Zu reduzieren bis der sinnvolle Kern erkennbar wird, ist mein Ideal von Gestaltung.  Unsere Leuchten werden dafür geschätzt, dass sie sich maximal zurücknehmen und dem Kontext, für den sie geplant sind, den Auftritt überlassen. Still, verlässlich, diesem übergeordneten Zweck dienend – und ohne Eitelkeit. Licht bedarf keiner Leuchte, es bedarf einer Quelle. Das ist meine Formel für maximale Integration. Das Möbel wird zur Leuchte. Die Leuchte wird zum Möbel. Es zählt das reine Lichtresultat – weniger die Leuchte als prominente Produktpersönlichkeit.

Also haben Lichtmöbel von GERA eine Doppelfunktion.

Genau, denn GERA Leuchten können mehr als nur Licht spenden. Wir haben auch Leuchten an der Schnittstelle zum Möbel – also möbelhafte Leuchten oder auch leuchtenhafte Möbel. Das Lichtregal ist ein Beispiel dafür. Es ist Einrichtungsgegenstand und Lichtquelle zugleich. Erst durch diese Doppelfunktion erfüllt es seine Aufgabe besonders überraschend, unauffällig und subtil. Es rückt allein die darin platzierten Gegenständen ins rechte Licht und gibt ihnen eine Bühne. Es erleuchtet darüber hinaus den Raum in einer unaufdringlichen Weise. Denn ganz im wertenden Sinne der für mich vorbildhaften Idee des Schweizer Architekten Lucius Burckardt, der für Gestaltung als „kleinstmöglichen Eingriff“ in ihren Kontext plädierte: Gutes „Design ist unsichtbar“.